Wahlfreiheit: Gut essen mit Genome Editing
Wahlfreiheit als ethisches Thema für Verbraucher und Landwirte. Tagung an der Evangelischen Akademie Tutzing, in Kooperation mit dem Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften (TTN) an der LMU München und dem BMBF-Forschungsverbund „Genome Editing in der Agrarwirtschaft“ (ELSA-GEA); 01. und 02. Oktober 2019.
Tagungsbericht von Sarah Bechthold, Institut TTN an der LMU München.
Wenn wir über den möglichen Einsatz von Genome Editing in der Nutzpflanzen- und Nutztierzucht reden, geht es nicht nur um Agrarprodukte, Handelsgüter oder Supermarktware – es geht letztlich um Lebensmittel, um unser Essen. Dieser Perspektive widmete sich der Workshop „Gut essen mit Genome Editing?“ und fragte nach den Zusammenhängen zwischen der Wahlfreiheit von Verbrauchern, Landwirten und Handel und der Regulierung beziehungsweise Kennzeichnung von genomeditierten Nahrungsmitteln.
In seiner Einladung zur Tagung erläuterte Stephan Schleissing zunächst nochmal die Anliegen, die für die Konzeption des Programms leitend waren. Er hob hervor, dass eine staatliche Regulierung unterschiedliche Schutzgüter zum Gegenstand habe: Da ist zum einen die Gesundheit des Menschen, aber auch der Schutz der Umwelt. Und dann gibt es noch etwas ganz anderes, das mit dem Wort „Wahlfreiheit“ angezeigt wird: Der Bürger soll die Möglichkeit haben, selber zu entscheiden, welche Pflanzen er anbaut, welche Waren er handelt und konsumiert. Ein Thema des ELSA-GEA-Forschungsverbunds ist die Frage, wie man diese Wahlfreiheit eigentlich in ethischer Hinsicht verstehen soll und zwar nicht nur im Hinblick auf die Selbstbestimmung des Bürgers, sondern auch im Hinblick auf den möglichen Mehrwert, den vor allem Forscher in der Veränderung des Genoms von Pflanzen und Tieren erblicken: „Dann stellen sich z.B. folgende Fragen: Gilt Wahlfreiheit als Recht des Bürgers unbegrenzt? Was sind – über den Aspekt der Gesundheit und des Umweltschutzes hinaus – die relevanten Güter, die mit der Wahlfreiheit geschützt werden sollen? Und in welchem Zusammenhang stehen diese Güter mit dem Anspruch einer „informierten Entscheidung“ des Bürgers, den die Lebensmittelkennzeichnung ermöglichen soll?“
Ethik des Essens und die Biotechnologisierung der Landwirtschaft
Der Biologe und Philosoph Christoph Rehmann-Sutter machte zu Beginn seines Vortrages deutlich, dass Essen nicht auf Ernährung, also die Aufnahme von Nährstoffen, reduziert werden sollte. Denn die Dimensionen des Geschmacks bzw. des Genusses sowie unserer sozialen Beziehungen und unseres Bezugs zur Umwelt, die sich über und im Vorgang des Essens ausdrücken, sind nicht bloß akzessorische Elemente. Sie sind ethisch relevante Bezugspunkte, die Essen als Praxis fundamental prägen.
Diesen Zugang zum Thema Essen verdeutlichte Rehmann-Sutter im Rückgriff auf den Philosophen Emmanuel Levinas, der darauf hingewiesen hatte, dass – wie die Arbeit – auch das Essen ein zentrales Moment des Lebensvollzugs leiblicher Wesen und daher über ein instrumentales Gebrauchsschema hinaus mit Lebensglück bzw. -leid und Autonomie des Subjekts verknüpft ist. Entsprechend unzureichend sei die exklusive Fokussierung auf die genetische Unverändertheit bei der Beurteilung der Qualität von Nahrungsmitteln. Die Konzeption des genetischen Codes als Essenz eines Lebewesens sei eine unzulässige Komplexitätsreduktion und verhindere, dass genetische Veränderungen bei Lebensmitteln in ihrem ethisch relevanten ökonomisch-politischen Kontext betrachtet werden. Zugleich wies er mit Karl Marx darauf hin, dass auch durch die aktuell bei Lebensmitteln vorherrschende Warenlogik die sozioökonomische und ökologische Dimension der Nahrungsmittelproduktion systematisch verdeckt werde. Dabei leiden insbesondere die Produzenten-Konsumenten-Beziehung und die Beziehung der Konsumenten zur Umwelt unter der Unsichtbarkeit des Entstehungs- und Herstellungsprozesses.
In der anschließenden Diskussion wurde diskutiert, in welchem Verhältnis die molekularen und sozialen Effekte von genetischen Veränderungen bei Lebensmitteln zueinander stehen. Dabei wurde festgehalten, dass natürlich auch Moleküle Wirkungen haben und eine diesbezügliche Veränderung auf ihre Auswirkungen für den Menschen geprüft werden müssen. Für die Wahlfreiheit stehe jedoch, so Rehmann-Sutter, die soziale Dimension der Technik und die Frage, was durch sie ermöglicht bzw. im Zuge realer sozialer Praxen verwirklicht wird, im Vordergrund.
Möglichkeiten der Genomik für eine tierfreundlichere Tiernutzung
Der Agrarwissenschaftler und -genomiker Hans-Rudolf Fries gab den Teilnehmern der Tagung zunächst einen Überblick über die historische Entwicklung des Forschungsgebiets Genomik in der Nutztierzucht. Er berichtete, dass nach dem ersten Nachweis einer genetischen Einflussnahme auf den Phänotyp von Tieren durch genetische Veränderung Anfang der 1980er Jahre auch in der Nutztierzucht Aufbruchsstimmung aufkam. So wurden bei Schweinen verschiedene genetische Veränderungen durchgeführt, die klassische Zuchtziele, wie Körpergröße und Wachstumsgeschwindigkeit, aber auch komplexe, ökologisch relevante Eigenschaften, wie beispielsweise die Phosphatverwertung und -ausscheidung, adressierten. Gerade in den Anfangsjahren dieses Forschungsgebiets wurde die Komplexität genetischer Effekte im tierlichen Organismus häufig unterschätzt. Unter Berufung auf einen der Begründer der Genomik, Francis H. Ruddle, stellte Fries daher fest, dass Wissenschaftler das Genom nicht nur lesen können, sondern auch verstehen müssen, wenn sie mit genetischen Anwendungen das Wohl von Tieren verbessern wollen.
Als aktuelles Beispiel führte Fries die Vorbeugung von Mastitis bei Milchkühen an, die nicht nur für die Tiere sehr schmerzhaft ist, sondern zudem mit Antibiotika behandelt werden muss. Ein Abwehrmechanismus der Kühe gegen den Erreger besteht in der Produktion von Laktoferrin – bei betroffenen Tieren ist dieses Molekül in hoher Konzentration in der Milch nachweisbar, gesunde Kühe produzieren es jedoch nur in geringem Maßstab. Eine verstärkte Aktivierung oder eine Multiplikation des Laktoferrin-Gens durch Genome Editing könnte daher zu einer besseren Resistenz von Kühen gegen den Erreger der Mastitis beitragen und den Einsatz von Antibiotika in der Milchviehhaltung reduzieren.
Neue Strategien zur Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten durch Genome Editing
Der Pflanzenwissenschaftler Frank Hartung legte den Teilnehmern der Veranstaltung die Funktionsweise der Genome Editing Technologie Crispr/Cas dar und zeigte auf, inwiefern sich diese Züchtungsmethode von der konventionellen Mutagenesezüchtung, bei der radioaktive Strahlung oder Chemikalien zum Einsatz kommen, um Doppelstrangbrüche auszulösen, und der klassischen, vektorvermittelten Gentechnik unterscheidet. Dabei unterschied er zwischen drei Formen des Einsatzes von Genome Editing. Bei der SDN1-Technik wird keine genetische Information in den Zielorganismus eingebracht und Mutationen ergeben sich zufällig bei der Reparatur des Doppelstrangbruches. Bei der SDN2-Technik wird eine „Reparaturvorlage“ mit in den Zielorganismus eingeschleust, die sich jedoch nur bei wenigen Basenpaaren vom Original unterscheidet. So können gezielt kleine Änderungen vorgenommen werden, ohne dass der Zielorganismus anschließend nachweisbare Fremd-DNA enthält. Die SDN3-Technik erlaubt dagegen den Einbau längerer genetischer Sequenzen und damit die Produktion von cisgenen Pflanzen (zusätzliches Gen der eigenen Art) oder transgenen Pflanzen (zusätzliches artfremdes Gen).
Weiterhin ging Hartung am Beispiel der Panamakrankheit bei der Banane auf die Besonderheiten der Nutzung von Genome Editing für die Pflanzengesundheit ein. Diese Krankheit wird durch einen Pilz ausgelöst, der sich aktuell durch kein Fungizid bekämpfen lässt und den weltweiten Bananenanbau massiv bedroht. Er wies darauf hin, dass eine Resistenz, die lediglich auf der Veränderung eines einzigen Genes beruhe – unabhängig davon mit welcher Methode diese erzielt wurde – von so einem Erreger schnell überwunden wird. Der Vorteil von Genome Editing bestehe daher vor allem darin, dass mit dieser Technik sehr effektiv eine Reihe von Faktoren im Genom der Pflanze verändert werden können, die deren Anfälligkeit bzw. Resistenzmechanismen betreffen.
Ethische Kriterien beim Einsatz von Genome Editing im Überblick
Die Biologin und Philosophin Sarah Bechthold erläuterte zunächst, inwiefern eine ethische Betrachtung von wissenschaftlichen oder technischen Innovationen über eine empirische Technikfolgen-Abschätzung hinaus einen gesellschaftlichen Mehrwert birgt. Sie ermöglicht zunächst eine Verständigung darüber, welche Effekte von Technik grundsätzlich wünschenswert bzw. zu vermeiden sind und erlaubt Chancen und Risiken von Technologien auch nach gesellschaftlich geteilten Werten zu gewichten. Anschließend erörterte sie ethische Kernthemen und arbeitete heraus, inwiefern diese von der möglichen Anwendung von Genome Editing im Bereich der Landwirtschaft tangiert werden. Dabei wurde auf klassische ethische Themenfelder, wie Menschenwürde, Lebens- und Gesundheitsschutz und das Funktionieren menschlicher Gemeinschaften ebenso Bezug genommen, wie auf ökologische Aspekte und das Vorsorgeprinzip.
Ziel des Vortrags von Bechtold war auch, die Teilnehmer der Veranstaltung auf die anschließende Gruppenarbeitsphase vorzubereiten, in der zwei aktuelle Anwendungsmöglichkeiten für Genome Editing hinsichtlich ihrer ethisch relevanten Chancen und Risiken diskutiert werden sollten. Dazu stellte Frau Bechtold für den Bereich der Pflanzen das Beispiel der Panamakrankheit bei der Banane vor (vgl. https://www.pflanzen-forschung-ethik.de/konkret/banane.html) und ergänzte die Ausführungen von Dr. Frank Hartung durch Informationen über die sozioökonomische Relevanz des Bananenanbaus. Für den Bereich der Tierzucht wurde die Schweinekrankheit Porcine Respiratory and Reproductive Syndrome (PRRS) vorgestellt (vgl. https://www.pflanzen-forschung-ethik.de/konkret/schweine.html), für die es ebenfalls derzeit keine effektive Behandlungsmöglichkeit gibt und die weltweit für Schweinehalter und ihre Tiere ein gravierendes Problem darstellt. Abschließend schlug Bechtold den Teilnehmern der Veranstaltung eine Reihe von ethischen Fragestellungen für die Gruppenarbeit vor, die sowohl unsere ethische Verantwortung gegenüber den Nutzorganismen und ihren Ökosystemen als auch den Menschen betraf, die ihren Lebensunterhalt mit der Produktion dieser Organismen verdienen. Außerdem warf sie die Fragen auf, auf welcher gesellschaftlichen Ebene über den Einsatz von Genome Editing entschieden werden solle und ob ethische Aspekte bei der Zulassung neuer Lebensmittel zu berücksichtigen seien.
Gruppenphase der Teilnehmer
Es wurden drei Gruppen gebildet, von denen sich zwei mit dem Anwendungsfall der Panamakrankheit bei der Banane und eine mit PRRS beim Schwein auseinandersetzten. In separaten Räumen diskutierten die Gruppen die Vor- und Nachteile des Einsatzes von Genome Editing in ihrem Anwendungsfall und wurden dabei von je einem Moderator unterstützt. Nach 40 Minuten Gesprächszeit traf man sich wieder im Auditorium, um die Ergebnisse der Gruppendiskussionen vorzustellen und zu diskutieren.
Der Fall der Panamakrankheit bei der Banane erschien den Teilnehmern besonders drängend, da zu befürchten ist, dass durch die Krankheit in Kürze der gesamte Bananenanbau zusammenbricht. Einige Teilnehmer gingen daher davon aus, dass wir eine moralische Verpflichtung gegenüber Menschen haben, die vom Bananenanbau leben und daher auch der Einsatz von Genome Editing gerechtfertigt ist. Andere Teilnehmer wiesen darauf hin, dass viele Probleme des Bananenanbaus, die erheblich dazu beitragen, dass die Panamakrankheit so bedrohlich ist (Monokultur und unfaire Produktionsbedingungen), sich durch den Einsatz von Genome Editing nicht lösen lassen, sondern das Problem unter Umständen perpetuieren. Insgesamt machte die Diskussion im Plenum deutlich, dass es schwierig und vielleicht auch gar nicht erstrebenswert ist, den Einzelfall von seinem Kontext – hier: den konkreten Bedingungen des Anbaus und Handels der Bananen in einem südamerikanischen Land – zu lösen. Auch war den Teilnehmern klar, dass der Perspektivwechsel zwischen europäischem Bananenkonsument und ortsansässigem Bananenproduzent nicht immer optimal gelingt.
Dieses Problem stellte sich der Gruppe, die die PRRS beim Schwein untersuchte, nicht in diesem Ausmaß. Im Gegenzug mussten sie Aspekte wie Haltungsbedingungen und Tierwohl in ihre Überlegungen miteinbeziehen und nutzten zur diesbezüglichen Informationsbeschaffung die mit Prof. Fries anwesende Expertise und auch das Internet. Viele grundsätzliche Überlegungen waren jedoch mit denen zur Panamakrankheit bei der Banane vergleichbar. So fragten sich die Teilnehmer beispielsweise, ob eine langfristige Bekämpfung der Seuche mit der geringfügigen genetischen Veränderung zu erreichen sei oder ob zu erwarten sei, dass der Erreger die Resistenz in kurzer Zeit überwindet. Auch wurde herausgestellt, dass höhere Hygienestandards und ein größeres Platzangebot nicht nur dem PRRS vorbeugen, sondern grundsätzlich dem Tierwohl dienen. Dabei bezog sich die Diskussionsgruppe auch auf den Hinweis, dass insbesondere kleine Betriebe mit raschem Bestandswechsel von der Seuche betroffen sind.
Natürlichkeit als ethisches Kriterium in der Debatte um Genome Editing
Der Philosoph Christian Dürnberger legte den Teilnehmern der Tagung dar, dass neben den Aspekten von Risiko und Gesundheit sowie sozialen Bedingungen vor allem das Thema „Natürlichkeit“ in der öffentlichen Debatte ein große Rolle spielt. Die Assoziationen und Konnotationen, die sich mit dem dabei angeführten Naturbegriff verbinden, sind jedoch alles andere als einheitlich und speisen sich aus unterschiedlichen, historisch gewachsenen Vorstellungen von Natur.
Ausgehend von Aristoteles, der das Natürliche als das Gewordene dem Künstlichen bzw. Gemachtem gegenüberstellt, interpretierte Dürnberger die aktuell, (quasi)religiöse Dimension der Mensch-Natur-Beziehung und den damit verbundenen Hands-off-Appell eher als Anlehnung an eine vorchristliche, sakral geprägte Naturvorstellung. Zugleich verwies er darauf, dass das, was wir als natürlich wahrnehmen (und wie man damit naturgemäß umgehen soll) stärker von Gewohnheit abhängt (qualitative Natürlichkeit), als von der tatsächlich natürlichen Entstehung (genetische Natürlichkeit). Somit verschmilzt der Naturbegriff mit dem Begriff der Tradition und wandelt sich zunehmend von einer räumlichen hin zu einer temporalen Kategorie, die sowohl die Idee von Natur als fruchtbarem Garten (die nährende Natur) als auch der Natur als karges Feld (die widerspenstige, lebensfeindliche Natur) umfasst. In Anlehnung an die Naturkonzeption in der lyrischen Epoche der Romantik etablierte sich die Natur in der Moderne erneut als Sehnsuchtsort, der widerständig bleibt und sich außerhalb des menschlichen Einflussrahmens erstreckt. Dementsprechend hat sich, so Dürnberger, auch das dystopische Momentum von der „toten Natur“ in den 1970-80er Jahren hin zum Drohbild der „maßgeschneiderten Natur“ entwickelt, mit dem wir es heute zu tun haben.
Insbesondere in der dystopischen Vorstellung der „maßgeschneiderten Natur“ erkannten viele Teilnehmer der Tagung Teile ihrer eigenen emotionalen Haltung wieder und konnten darüber diskutieren, worin die gefühlte Ablehnung gründet. Ebenso wurde festgestellt, dass die gesellschaftlich wahrgenommene Abneigung gegen die „maßgeschneiderte Natur“ die Kontroverse über Genome Editing maßgeblich prägt, erklärt sie doch zumindest teilweise die geringe Reichweite des Präzisionsarguments, welches für Genome Editing häufig ins Feld geführt wird.
Wahlfreiheit im Lichte des Gentechnik-Grundsatzurteils des EuGH
Der zweite Tag der Tagung wurde von dem Juristen Jens Kahrmann eröffnet, der sich aus rechtlicher Sicht mit dem Thema Wahlfreiheit und Kennzeichnung auseinandersetzte. Er erklärte, dass ein Recht auf Wahlfreiheit für Verbraucher erstmals in einer 1962 gehaltenen Rede von John F. Kennedy postuliert wurde: „All of us have the right to be protected against fraudulent or misleading advertisement and labels – the right to be protected against unsafe or worthless drugs and other products – the right to choose from a variety of products at competitive prices. […]“. Dieses wurde im Jahre 1987 in Art. 169 Abs. 1 AEUV europaweit primärrechtlich verankert. Zwecksetzung des Gesetzes ist der Verbraucherschutz zu dessen Gunsten die Warenverkehrsfreiheit eingeschränkt werden kann. Somit handelt es sich beim Recht auf Wahlfreiheit nicht um ein fundamentales Grundrecht von Individuen, sondern um einen wichtigen Aspekt des Verbraucherschutzes im Sinne einer Zielbestimmung für den Gesetzgeber („Kennedy-Rechte“): Das Lebensmittelrecht muss dafür Sorge tragen, dass die notwendigen Voraussetzungen bestehen, damit Konsumenten eine sachkundige Wahl treffen können.
Um die derzeitige Situation um die Kennzeichnung von genetisch veränderten Organismen (GVO) in Deutschland nachvollziehbar zu machen, gab Kahrmann auch dazu einen kurzen historischen Überblick und legte dar, dass die Kennzeichnung ursprünglich eingeführt worden war, weil die Nutzung der Gentechnik zu tiefgreifenden strukturellen Änderungen in der Agrarwirtschaft führen kann, zu denen sich der Verbraucher verhalten können sollte. Erst 2004 wurde der Aspekt der Koexistenz mit in die Begründung zur Kennzeichnung genetisch veränderter Lebensmittel aufgenommen, wobei der zentrale Bezugspunkt hier die wirtschaftliche Koexistenz von Anbaumethoden ist. International betrachtet, ist die deutsche GVO-Kennzeichnung allerdings keineswegs alternativlos, wie Kahrmann anhand eines Vergleichs mit verschiedenen anderen Ländern deutlich machte.
Abschließend ging er auf das Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Sommer 2018 ein, dass genomeditierte Lebensmittel solchen gleichstellt, die durch klassische Gentechnik hergestellt wurden und stellte die wichtigsten Kritikpunkte vor, die bezüglich dieses Urteils geäußert werden. Insbesondere wies er darauf hin, dass durch das Urteil negative Folgen für die Wahlfreiheit von Verbrauchern zu erwarten sind, denn Konsumenten in Deutschland werden bei der derzeitigen Rechtslage vom aktuellen Fortschritt in der Forschung nicht profitieren können.
Ökonomische Folgen des EuGH-Urteils für Kennzeichnung und Handel von Lebensmitteln mit oder ohne Gentechnik: Eine Problemanzeige
Der Agrarökonom Justus Wesseler wies in seinem Vortrag darauf hin, dass die neuen Pflanzenzüchtungstechnologien (NPBTs) bereits weit verbreitet sind und die Entwicklung neuer Nutzpflanzensorten vorantreiben. Die Tatsache, dass diese Techniken gegenwärtig europaweit unter die Gentechnikverordnungen fallen (v.a. EU-Freisetzungsrichtlinie 18/2001), führt zu steigenden Kosten für diejenigen, die diese Technologien einsetzen wollen, da aufwendige Zulassungsprozeduren notwendig sind. Würden die NPBTs nicht unter das Gentechnikrecht fallen, gäbe es aus ökonomischer Perspektive deutlich mehr Anreize, in diesen Forschungsbereich innerhalb Europas zu investieren. Wesseler sprach von einem „value of opportunities“, das grundsätzlich die Innovationsfähigkeit stärke, in Europa jedoch nicht genutzt werden würde.
Bleiben die NPBTs jedoch unter der dem Gentechnikregelungsregime der EU-Freisetzungsrichtlinie, dann hat dies nicht nur Folgen für den Export, sondern auch für den Import genomedierter Agrarprodukte. Denn wenn die genomeditierten Produkten von ihren konventionell hergestellten Äquivalenten nicht zu unterscheiden sind, kann bei Importen – z.B. aus den USA oder Kanada, wo Genome Editing nicht mit einer besonderen Zulassungsprozedur und Kennzeichnungspflicht verbunden ist – die Identität eines Produkts nicht ohne Weiteres sichergestellt werden. Da die von der EU geforderte Kennzeichnung im Falle von Genome Editing nur schwer umzusetzen sein wird, könnte es zu Verzerrungen im internationalen Agrarhandel kommen, die die Kosten für die europäischen Konsumenten, aber auch für die landwirtschaftliche Produktion in Europa substanziell erhöhen. Wesseler wies darauf hin, dass angesichts einer drohenden Asynchronizität bei der Zulassung genomedierter Produkte diejenigen profitieren könnten, die dezidiert ihre Produkte als „Gentechnikfrei“ bzw. „GMO-free“ kennzeichnen. Angesichts der Probleme bei der Identifikation von Genome Editing im Endprodukt stehen diese Anbieter jedoch vor der Herausforderung, dies für ihre Kunden auch zweifelsfrei nachweisen zu können.
Was heißt Wahlfreiheit? Verpflichtende oder freiwillige Kennzeichnung von genomeditierten Lebensmitteln? – Pro & Contra
Der evangelische Theologe Stephan Schleissing plädierte in seinem Statement für den Ausschluss von Lebensmitteln mit GE-induzierten Punktmutationen (SDN1/2) aus der GVO-Kennzeichnungspflicht und eine freiwillige Kennzeichnung für Lebensmittel, die ohne den Einsatz von Genome Editing hergestellt wurden.
Dr. Stephan Schleissing, Leiter des Programmbereichs „Ethik in Technik und Naturwissenschaften“, Institut TTN an der LMU München; Projektleiter im BMBF-Verbund „Ethische, rechtliche und sozio-ökonomische Aspekte des Genome Editing in der Agrarwirtschaft“ (ELSA-GEA)
Er stellte fest, dass zwar grundsätzlich kein allgemeines Recht auf Wissen, unabhängig von dessen Relevanz, bestehe, dass aber zugleich Vorsorge auch ein Anliegen und Auftrag von Bürgern als Verbraucher sei. Umso wichtiger ist es, so Schleissing, dass die an den Verbraucher weitergegebene Information verlässlich und glaubwürdig ist. Gerade hier ergeben sich bei der Kennzeichnung von Genome Editing Probleme, da die Nachweis- und insbesondere die Identifizierbarkeit von genomeditierten Produkten in vielen Fällen nicht gegeben sind. Aus seiner Sicht droht die fehlende Zuverlässigkeit beim Nachweis aber nicht nur die Glaubwürdigkeit der Pflichtkennzeichnung, sondern auch die Wahlfreiheit zu unterminieren. Denn Wahlfreiheit ohne verlässlichen Grund, sei nicht Freiheit, sondern Willkür. Und damit werde der Kerngehalt von Wahlfreiheit infrage gestellt: dass der Verbraucher aus Gründen der Selbstbestimmung eine informierte Entscheidung treffen kann.
Obwohl Schleissing für den Verzicht einer Pflichtkennzeichnung für solche Produkte plädierte, die GE-induzierten Punktmutationen (SDN1/2) enthalten, sieht er die Wahlfreiheit weiterhin dadurch gewährleistet, dass Konsumenten, die aus höchstpersönlichen Gründen keine Produkte kaufen wollen, die mit Hilfe von Genome Editing hergestellt werden, auf die freiwillige Kennzeichnung des Labels „Ohne Gentechnik“ zurückgreifen können. Durch diese Form der Kennzeichnung wird die Wahlfreiheit gestärkt, da sie zur Vielfalt auf dem Markt beiträgt. Weiterhin ermöglicht diese Vorgehensweise dem Verbraucher, zu bewerten auf welche Art und Weise Genome Editing im landwirtschaftlichen Bereich realisiert wird und die Technologie anhand der damit verbundenen Praxen abzulehnen oder zu befürworten.
Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald, Vorstand der Schweisfurth-Stiftung, Honorarprofessor für Umwelt-, Agrar- und Ernährungsethik an der Humboldt Universität zu Berlin und Vorsitzender der Verbraucherkommission Bayern
Auch für den katholischen Theologen Franz-Theo Gottwald zählt die Nachweisbarkeit von bestimmten Zuchttechniken im Produkt nur nachgeordnet. Viel gewichtiger sei die Nährstoffqualität, die Gesundheitsqualität, die kulturelle Qualität des Erzeugnisses oder gar die ethische Qualität des inverkehrbringenden Unternehmens.
Gleichwohl plädierte Gottwald für eine Beibehaltung der verpflichtenden Kennzeichnung auch solcher Produkte, die mit Genome Editing hergestellt werden. Dabei ging er grundsätzlich davon aus, dass Kennzeichnung sowohl Lebensmittelproduzenten als auch -konsumenten zum Vorteil gereicht. Als Mittel der Marktsegmentierung und als Leitlinie für die Produktentwicklung sorgen Lebensmittelkennzeichnungen für die Einführung neuer Produkte und einen Gewinn an Wahlfreiheit. Weiterhin vermitteln die Standards, die für die Kennzeichnung eingehalten werden müssen, Rechtssicherheit für Produzenten und Vertrauen bei den Verbrauchern.
Eben um diese vorteilhaften Effekte der Kennzeichnung sicherzustellen, sei, so Gottwald, eine verpflichtende staatliche Vollkennzeichnung die beste Lösung. Denn der Staat habe ein größeres Potential für Marketingkampagnen und Begriffsschutz für das betreffende Label als privatwirtschaftliche Institutionen. Außerdem ist er besser in der Lage den gesamten Markt mit der Kennzeichnung zu durchdringen und genießt bei Verbrauchern besondere Glaubwürdigkeit. Wenn ein freiwilliges Label dagegen einen sehr hohen Verbreitungsgrad erreicht, wirkt es ähnlich wie eine Pflichtkennzeichnung. Nach Ansicht Gottwalds stelle die Alternative freiwillige vs. verpflichtende Kennzeichnung von Produkten, die aus Genome Editing hergestellt werden, also keine prinzipielle Alternative dar, sondern müsse vor allem im Hinblick auf die potenzielle Marktdurchdringung diskutiert werden. Die ideale Kombination bestünde aus einem staatlichen, freiwilligen Label und einer darauf aufsetzenden, durchgängigen Kennzeichnung aller Produkte durch den Einzelhandel.
Wahlfreiheit ermöglichen im Zeitalter von Genome Editing - Podiumsdiskussion
Die Diskussion auf dem Podium, die von Matthias Arlt geleitet wurde, setzte sich zunächst mit den beiden Statements auseinander, die das Problem des Verhältnisses von Kennzeichnung und Wahlfreiheit adressiert hatten. Im Folgenden sind die Eingangsvoten der Diskutanten kurz zusammengefasst.
Podiumsdiskussion: Dr. Alexander Beck (AöL, Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller), Dr. Katja Börgermann (Bv-Agrar, Bundesverband Agrargewerbliche Wirtschaft), Dr. Matthias Arlt (Leiter Geschäftsstelle PLANT 2030, Moderation), Dr. Markus Gierth (BDP, Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter), Johann Graf (Bayerischer Bauernverband) (von links nach rechts)
Alexander Beck stellte eingangs fest, dass Verbraucher grundsätzlich wenig Wissen darüber haben, welche Verfahren bei der Herstellung von Lebensmitteln eingesetzt werden und welche Effekte sie haben. Für die Frage, ob eine Produkteigenschaft gekennzeichnet wird, seien die wissenschaftlich-technischen Aspekte wie Nachweisbarkeit und Umsetzbarkeit im Rahmen von Qualitätssicherungsstrategien gleichwohl von zentraler Bedeutung. Beck illustrierte dies am Beispiel des Einsatzes der Zellfusionstechnologie CMS (Cytoplasmatische männliche Sterilität), die laut EU-Recht als Gentechnik bewertet wird – nicht jedoch, wenn sich die Pflanzen auch auf natürlichem Wege kreuzen könnten. Da dies beispielsweise bei Rettich und Brokkoli möglich ist, dürfen CMS-Hybride nicht nur im konventionellen Gemüseanbau, sondern auch bei „bio“ verwendet werden. Die öffentliche Diskussion um die Einordung der CMS-Technik und die Kritik an ihrem Einsatz im ökologischen Landbau hat vor einigen Jahren nicht nur zu großen Haftungsrisiken, sondern auch zu einem Vertrauensverlust geführt. Beck konstatierte, dass Kennzeichnungen wie beispielsweise „Ohne-Gentechnik“ zum Zweck der Vertrauensbildung seitens der Verbraucher sehr gut funktionierten, auch wenn die Nachweisbarkeit tatsächlich problematisch ist. Solche Kennzeichnungen können daher durchaus als sinnvolles Mittel gesellschaftlicher Verantwortungs-Allokation betrachtet werden. Abschließend wies er darauf hin, dass die Ernährung der Zukunft nicht allein davon bestimmt wird, was technisch machbar und ernährungsphysiologisch sinnvoll ist, sondern auch davon, wie sich tatsächliche Ernährungspraktiken in entsprechenden sozialen Kontexten entwickeln.
Katja Börgermann machte deutlich, dass eine Engführung des Verbraucherbegriffs auf den Endkonsumenten den tatsächlichen Gegebenheiten des Marktes für landwirtschaftliche Produkte nicht entspricht. Angesichts des Urteils des Europäischen Gerichtshofs sei zwar auch der Handel aus Gründen der Rechtssicherheit sehr daran interessiert, zu wissen, ob Genome Editing bei der Produktion von Waren zum Einsatz gekommen ist. Allerdings entstünden hier auch massive Probleme, wenn es sich bei der Ware beispielsweise um Schüttgüter wie Getreide oder Ölsaaten handelt. Hier besteht die Gefahr, dass Deutschland als Importstandort an Attraktivität einbüßt und sich damit wirtschaftlich schadet, sollte es nicht gelingen Deutschland als Premiumimporteur für bestimmte Produkte zu etablieren. Bezüglich der Kennzeichnung von genomeditierten Lebensmitteln kritisierte Börgermann, dass kennzeichnungspflichtige Produkteigenschaften in der Regel auf Bedürfnisse von Endverbrauchern ausgerichtet sind und dabei die Multidimensionalität erstrebenswerter Produkteigenschaften unbeachtet bleibt. Abschließend bemerkte sie, dass zukünftig mit Innovationen und Veränderungen der Warenströme im Agrarbereich zu rechnen ist und dass der Agrarhandel sich darauf einstellen wird, dabei aber nicht durch kurzfristige Subventionen behindert werden sollte.
Markus Gierth stellte zunächst heraus, dass Pflanzenzüchter keine Endverbraucherprodukte herstellen, sondern Landwirte beliefern, die in Deutschland hundert Prozent GVO-freie Ware verlangen müssen. Angesichts der Schwierigkeiten bei Nachweis und Identifikation sprach er sich dafür aus, dass nicht nur von einer Kennzeichnung von genomeditierten Saatgutprodukten, die auch durch konventionelle Züchtung entstanden sein könnten, abzusehen sei, sondern dass diese künftig auch nicht als GVOs gelten sollten. Aus Gründen der Glaubwürdigkeit sei weiterhin auch eine positive Kennzeichnung nachteilig, wobei dadurch nicht ausgeschlossen sei, dass unabhängig vom Herstellungsverfahren mit verbesserten Produkteigenschaften geworben wird. Gierth macht weiterhin darauf aufmerksam, dass sich aufgrund der Einstufung von Genome Editing als Gentechnik das Ausgangsmaterial und damit die züchterischen Möglichkeiten für deutsche Züchter drastisch reduzieren würden. Denn aus Sicherheitsgründen könnten sie kein Saatgut für die konventionelle Zucht verwenden, das aus Ländern kommt, in denen Genome Editing zum Einsatz kommt. Um Landwirten und Verbrauchern die Möglichkeit zu geben, dennoch Produkte zu erwerben, bei denen kein Genome Editing angewendet wurde, schlug Gierth eine direkte Kommunikation von Landwirt und Pflanzenzüchter vor, da sich so Informationen zielgerichtet austauschen und Vertrauen bestmöglich generieren ließe.
Johann Graf bemerkte, dass die Lebensmittelproduktion grundsätzlich sehr hohen Anforderungen an die Vertrauenswürdigkeit entsprechen muss und dass die Hauptlast der Vertrauensgenerierung auf der Landwirtschaft und ihren Akteuren lastet. Er berichtete, dass sich der Bayerische Bauernverband derzeit intensiv mit dem Thema Genome Editing in der Landwirtschaft beschäftige, da davon ausgegangen werden muss, dass verschiedene GE-Produkte unmittelbar vor der Markteinführung stehen und in Kürze auch in Deutschland eingeführt beziehungsweise für die weitere Züchtung verfügbar werden. Es sei daher unbedingt notwendig, dass sich eine zukünftige Regulierung von Genome Editing auch an der aktuellen Umsetzbarkeit von Kontrollsystemen orientiert. Hinsichtlich der Kennzeichnung sprach sich Graf dafür aus, auch sozioökonomische Effekte in die Entscheidung über Umfang und Art der Kennzeichnung mit einfließen zu lassen. So sei es von großer Bedeutung zwischen positiver und negativer Kennzeichnung zu differenzieren, denn diese habe erheblichen Einfluss auf das Kaufverhalten. Lässt man zu, dass der Einsatz von Genome Editing allein über die Kennzeichnung reguliert wird, besteht die Gefahr, dass die berechtigten Interessen vieler relevanter Akteure nicht berücksichtigt und die Entscheidung letztlich auf Basis wenig vertrauenswürdiger, weil nicht nachprüfbarer Information gefällt wird.
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Letzte Aktualisierung: 01.11.2019