Natürlichkeit als Wert –
Ist das Natürliche besser als das Künstliche?
Natürlichkeit ist für viele Menschen ein entscheidender Wert bei ihrer Lebensmittelwahl im Supermarkt. So lehnen sie etwa Lebensmittel mit „künstlichen“ Zusatzstoffen ab und bevorzugen das „natürliche“ Produkt. Natürlichkeit wird höchst unterschiedlich verstanden: als technikfern, ursprünglich, schön oder auch gesund. Bei moralischen Entscheidungen taugt Natürlichkeit allerdings nur bedingt als allgemeines Kriterium. Warum erscheint vielen Menschen dennoch das Natürliche als etwas Besseres?
„Der Mensch ist ein Teil der Natur und nicht etwas, das zu ihr im Widerspruch steht.“
Bertrand Russell (1872–1970)
Foto: Daily Mail, Wikimedia Commons
Die Lüneburger Heide als Kulturlandschaft – vom Menschen geschaffen, von vielen als natürlich erachtet.
Foto/Titelfoto: TourismusMarketing Niedersachsen GmbH
Natürlichkeit in der Landwirtschaft
Wann nennen wir ein Lebensmittel „natürlich“? Der deutsche Philosoph Dieter Birnbacher hat sich mit dieser Frage beschäftigt und dabei zwischen einer genetischen und einer qualitativen Natürlichkeit unterschieden. Genetische Natürlichkeit (von griech. genesis für Ursprung) bezieht sich auf die Entstehungsgeschichte. Man erkennt einem Lebensmittel dann Natürlichkeit zu, wenn der Mensch den Herstellungsprozess möglichst wenig beeinflusst hat. Die qualitative Natürlichkeit bezieht sich auf die Erscheinungsform eines Lebensmittels: Wie fühlt es sich an? Wie sind seine Eigenschaften? Ähnelt es anderem „Natürlichen“? Hierbei zeigt sich, dass die Zuschreibungen von Natürlichkeit widersprüchlich ausfallen können. Der im Labor gezüchtete Apfel mag hinsichtlich seiner Herstellung als weniger natürlich gelten als ein wild gewachsener – zugleich sieht er in der Regel durchaus natürlich aus.
Natürlichkeit genießt allgemein eine hohe Wertschätzung: Was natürlich ist, gilt als das Gute, das Ursprüngliche, das Eigentliche. Das Künstliche steht hingegen im Verdacht der Manipulation. Diese Differenz zeigt sich nicht nur in den Marketingstrategien der Lebensmittelbranche, sondern auch in den Vorstellungen der meisten Menschen über Landwirtschaft: So sehen viele die biologische Landwirtschaft, in der auf synthetische Düngemittel und Pestizide verzichtet wird, als die natürliche Bewirtschaftungsweise an. Umgekehrt betrachten sie die konventionelle Landwirtschaft oder den Einsatz der Gentechnik als künstlich. Gentechnik bzw. eine gentechnische Veränderung gilt als etwas, das „gegen die Natur“ gerichtet ist und wird daher als unnatürlich abgelehnt. Dagegen kann man argumentieren, dass auch ohne technische Interventionen genetische Veränderungen im Zuge evolutionärer Prozesse stattfinden. Auch kann gefragt werden, ob zwischen traditioneller Züchtung und Gentechnik nicht lediglich ein gradueller Unterschied besteht. Warum gelten gemeinhin neue Kultursorten, bei denen die Veränderung im Erbgut mittels radioaktiver Strahlung erzeugt werden (Mutagenese) eher als natürlich als Methoden der grünen Gentechnik? Sind die Methoden des Genome Editings weniger künstlich als die der klassischen Gentechnik? Und sollten diese Unterschiede für die Regulierung der Techniken eine Rolle spielen?
Die Zuordnung von natürlich bzw. künstlich ist also nicht frei von Widersprüchen. Oft ist sie mit einer moralischen Wertung verbunden. Ihren Bonus verdankt Natürlichkeit aber weniger vernünftigen Gründen, als vielmehr bestimmten Vorstellungen und Erwartungen bei der Ernährung und der Praxis kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Für manche passt die moderne Biotechnologie als Inbegriff einer Technisierung der Natur nicht in das Bild einer naturnahen Landwirtschaft und wird als unmoralisch zurückgewiesen. Andere können solche technischen Veränderungen allerdings sehr wohl in ihr Bild von Natur integrieren. Doch warum sehen viele im vermeintlich Natürlichen etwas Wertvolles oder Normhaftes? Und kann man Natürliches überhaupt derart klar von Künstlichem trennen? Ist denn nicht der Mensch Teil der Natur – wie vom Philosophen Bertrand Russell (1872–1970) beschrieben – und damit auch alles vom Menschen Geschaffene?
Natürlichkeit als Wert
Dass etwas Natürliches als moralischer Wert angesehen wird, kann sehr unterschiedlich begründet werden. Beispielsweise wird die vom Menschen unabhängige, also ohne sein Zutun gewordene Natur als ein Wert an sich gesehen. Gentechnik wird vor diesem Hintergrund zum Problem, weil sie auf einem direkten Eingriff in das Genom beruht und dadurch „natürliche“ Selektionsmechanismen umgangen werden. Aus diesen Überlegungen heraus wird Gentechnik häufig kategorisch abgelehnt (Deontologie). Doch welche Natur und welche natürlichen Prozesse können als wertvoll und insofern als Norm für menschliches Handeln gelten? Natur ist etwas Dynamisches, das sich stets verändert. Insofern bedarf es einer Festlegung, welche Natur konkret als wertvoll erachtet werden kann. Denn „die“ Natur gibt es nicht. Als „natürlich“ wird zumeist diejenige Natur beschrieben, die als vertraut gilt und mit der jemand gelernt hat zu leben. In dieser Sicht wird auch die von Menschen gemachte Natur – wie beispielsweise die Lüneburger Heide – als gewachsene Natur wahrgenommen. Vielleicht beruht das Unbehagen an moderner Pflanzenbiotechnologie weniger auf der Tatsache, dass Pflanzen in irgendeiner Weise vom Menschen „künstlich“ verändert wurden, sondern darauf, dass sie mit Techniken arbeitet, die neu sind. Innovationen durchbrechen immer den Horizont des Vertrauten. Gleichwohl können Innovationen Teil einer vertrauten Lebenswelt werden.
In der Ethik gilt „natürlich“ aber auch aus einem anderen Grund als Wert. Natürliches ist gegenüber Künstlichem und Neuem für viele schon deshalb höher zu bewerten, weil ihm ein Prozess zugrunde liegt, der seit Jahrmillionen abläuft. Dieser Prozess, so wird von einigen Philosophen argumentiert, habe zu einem Gleichgewicht in der Natur geführt, das der Mensch nicht aus der Balance bringen soll. Ein gentechnisch veränderter Organismus wird hier als störender Eingriff mit nicht vorhersehbaren Folgen angesehen. Diese Position argumentiert auf der Ebene der Folgen (Konsequentialismus). Doch genau genommen ist es das Nichtwissen möglicher Folgen, das hier als Argument angeführt wird. Das Argument „Natürlichkeit“ ist attraktiv, weil es an die Stelle des (Noch-)Nichtwissens möglicher Folgen die bewährte Berechenbarkeit der Natur und ihrer Gesetze bevorzugt. Das Natürliche wird als weniger risikoanfällig angesehen. Die Maxime, der Natur zu folgen, ist demnach ein Klugheitsargument, das mit der Vorsicht argumentiert. Allerdings bleibt diese Aussage, sofern sie mit dem Gleichgewicht argumentiert, empirisch prekär. Auch in der vom Menschen unberührten Natur kommt es zu intensiven Schwankungen und mitunter drastischen Veränderungen.
Aus philosophischer Sicht wird der moralische Alltagsbonus der Natürlichkeit weitgehend kritisch diskutiert. Wer aus einem Zustand, wie er natürlich ist, ableitet, dass dieser Zustand auch so sein soll bzw. moralisch als „gut“ befunden werden kann, der läuft Gefahr, den so genannten naturalistischen Fehlschluss zu begehen. Weil das Argument der Natürlichkeit immer auf empirische Beschreibungen angewiesen ist, gilt seine Anerkennung daher nur so lange, wie die meisten Menschen neben guten Gründen auch starke Überzeugungen dafür angeben können, warum das bestehende Natürliche besser ist als das neue Künstliche.
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Diskussion / Kommentare
Letzte Aktualisierung: 02.08.2017
Themen
Ethik und Werte
„Das Natürlichkeitsargument ist genauso alt wie die Philosophie und immer schon umstritten gewesen.“
Prof. Dr. Angela Kallhoff, Institut für Philosophie, Universität Wien
Urban Gardening. Eindrücke aus Berlin. Ein Video von Studenten der Hochschule Ansbach
Im Web
- Dürnberger, Christian (2008): Der Mythos der Ursprünglichkeit. In: Forum TTN 2008(19): 45-52.
- Schiemann, Gregor (2009): Naturphilosophie als Arbeit am Naturbegriff. In: Kummer, Christian (Hrsg.) (2009): Was ist Naturphilosophie und was kann sie leisten? Freiburg; 151–169.
- Schramme, Thomas (2002): Natürlichkeit als Wert. In: analyse & kritik – Zeitschrift für Sozialtheorie 24(2): 249–271.